Die Pandemie als seelischer Stresstest
Corona schlägt aufs Gemüt: wen wundert’s. Bei den Jugendlichen soll sich die Zahl der Depressiven von 9 auf 18 Prozent verdoppelt haben, und Psychiaterinnen, Seelsorger und die Psychiatrie-Spitex klagen mittlerweile allesamt darüber, dass sie von Hilfesuchenden förmlich überrannt werden.
So schlimm sei es in der Alterspsychiatrie nicht, sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Claudia Schweizer. Die Organisationen hätten ihr Angebot sehr rasch massiv aufs Telefon ausgeweitet, auch mit Freiwilligen, und so niederschwellige Hilfe angeboten, nebst der Unterstützung für alltägliche Besorgungen.
Claudia Schweizer: «Die Alterspsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern sind für Verängstigte, psychisch kranke Menschen oft nicht die erste Anlaufstelle. Gerade Ältere haben starke Vorbehalte. Sie befürchten, dass – kaum sei das Telefon aufgehängt – „scho s`Wägeli verbi chunnt…“ Will heissen: sie denken, das sei der 1. Schritt zur Einlieferung in die „Psychi“, zur administrativen Versorgung. Stimmt natürlich nicht. Aber unser ambulantes Angebot ist einfach zu wenig bekannt. Auch wir haben einen speziellen Telefondienst eingeführt, bei dem sich verunsicherte Menschen ab 65 melden können. Bis zu zwei Beratungen durch unsere Fachleute sind kostenlos und auf Wunsch anonym.»
Welche psychischen Belastungen stellen Sie jetzt am häufigsten fest?
Claudia Schweizer: «Fast immer geht es um Verunsicherung: Angst vor der Ansteckung mit Covid 19, vor einem allfällig schweren Verlauf. Was darf man, soll man überhaupt noch. Bei manchen Menschen führt das zur totalen Selbstisolation, hin und wieder zu phobischen Reaktionen. Sie getrauen sich nicht mehr raus zu gehen, im schlimmsten Fall vermeiden sie aus Angst vor einer Ansteckung sogar wichtige Arzttermine.»
Die Alterspsychiatrie führt eine Tagesklinik, die PatientINNEN kommen normalerweise zu Ihnen. Ist das nicht eine hohe Hürde, wenn doch ältere Menschen möglichst zuhause bleiben sollen?
Claudia Schweizer: «Wir haben auch die Möglichkeit, in Heime zu gehen oder jetzt vereinzelt sogar nach Hause zu den Patienten. Nebst Gesprächen per Telefon sind wir dabei, unser Angebot in der Telemedizin auszubauen: Wer vertraut ist mit dem Computer, dem iPad oder ein Smartphone hat, kann sich per Link und PIN bei uns direkt beraten oder sogar behandeln lassen. Wir haben diese Form unter uns im Home-Office testen können, und die bisherigen Erfahrungen sind positiv. Die aussergewöhnliche Pandemiesituation macht auch uns flexibler.»
Ältere Menschen könnten mit den Einschränkungen besser umgehen als jüngere, heisst es. Stimmt das?
Claudia Schweizer: «Ja, grundsätzlich schon. Sie sind in der Regel gefestigter, haben schon vieles erlebt, und manche haben sich auch an ein selbstgenügsames Leben gewöhnt. Sie haben vielleicht noch ein, zwei persönliche Kontakte, das Telefon, und das reicht. Aber selbst dann: wenn die Struktur wegfällt, zBsp. der regelmässige Mittagstisch im Altersheim, die Kaffeerunde mit FreundINNEN, in der Kirchgemeinde, dann wird’s schwierig.»
Die Psychologin ist deshalb erleichtert, dass der strenge Lockdown vom Frühling in den Altersheimen gelockert worden ist, denn gerade hochaltrige Menschen litten stark unter den coronabedingten Einschränkungen, insbesondere wenn sie an einer Demenz erkrankt sind und Mühe haben, ihre Bezugspersonen unter der Maske zu erkennen. Zudem erschwert die Maske die Kommunikation, wenn das Gehör schlecht ist. Dabei seien gerade für Demenzerkrankte Kontakte zu vertrauten Angehörigen besonders wichtig zur Stabilisierung, sagt Claudia Schweizer. Als Vertrautes wegfiel, reagierten viele Ältere verängstigt.
Die Pandemie macht auch Paaren zu schaffen: man geht sich auf die Nerven. Alte Konflikte brechen auf. Hat die häusliche Gewalt zugenommen?
Claudia Schweizer: «Man weiss nicht genau, ob das bei älteren Paaren zutrifft, aber Konflikte gibt es – wie gesagt – bei der Pflege von Demenzerkrankten. Viele Kranke verstehen nicht, weshalb sie Abstand halten oder Hygieneregeln befolgen sollten und reagieren gereizt. Das ist eine Belastung für die pflegenden EhepartnerINNEN. Während des ersten Lockdowns gab es für sie wenig Ausweichmöglichkeiten, da etwa die Tageskliniken geschlossen waren. Jetzt hat sich die Situation etwas entspannt.»
Einsamkeit als Fluch: Die Decke fällt besonders Alleinstehenden auf den Kopf. Gibt es ein Alarmzeichen, das signalisiert: jetzt musst Du Hilfe holen?
Claudia Schweizer: «Ja, ganz klar. Wenn jemand Suizid-Gedanken hat, das Gefühl, er halte diesen Zustand nicht mehr aus, es komme nie mehr gut und sogar Pläne schmiedet, seinem Leben ein Ende zu setzen – das ist gefährlich. Dann braucht es dringend Unterstützung von aussen, um diesen Tunnelblick aufzuweichen. Manchmal helfen schon wenige Gespräche oder Medikamente, um die Stimmung aufzuhellen.»
Das Virus hat uns auch im 2. Jahr nach dem Ausbruch fest im Griff. Das zeigt schon die täglich publizierte Zahl der Ansteckungen und Toten. Noch nie in ihrer beruflichen Laufbahn sei sie so nah mit dem Sterben konfrontiert gewesen, sagt Claudia Schweizer. Jetzt hofft sie – wie viele ihrer PatientINNEN – auf eine baldige Impfung. Und ein bisschen auch auf den Sommer.
Bei diesen Stellen gibt es Hilfe
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD) AG
Corona-Telefon 031 632 46 09
Die Dargebotene Hand
143
Beratungsstelle Opferhilfe Bern
031 370 30 70
beratungsstelle@opferhilfe-bern.ch
Frauenhaus Bern
Fachstelle Opferhilfe bei häuslicher Gewalt
031 332 55 33
info@frauenhaus-bern.ch
UBA (unabhängige Beratungsstelle Alter)
0848 0013 13/info@uba.ch